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Schnaps Ideen

Martin Schnap war ein Schulkamerad von mir gewesen. Keiner, der mir besonders nah gestanden wäre. Wir gingen einfach auf dieselbe Klasse. Angefreundet haben wir uns später, wenn wir mit unseren Studien fertig gewesen und unsere beruflichen Karrieren angegangen waren. Erst dann kamen jene Charakter- und Interessen-Ähnlichkeiten zum Vorschein, die aus zwei Kumpanen Freunde machen. Beide hatten wir ein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen, Martin Physik, ich Biologie. Wir promovierten und gleich nach der Uni gut bezahlte Jobs fanden. Beide waren wir in sehr langen Beziehungen und diese Stabilität im Privatleben machte uns müde. Wir sehnten nach Abwechslung und Abenteuer. Bei jedem Treffen zu zweit schmiedeten wir die kühnsten und geheimsten Pläne, wonach diese Sehnsüchte wahr werden sollten. Ohne dass wir sie je zu verwirklichen versuchten. Bis zu jenem Freitag.
Es war halb neun Uhr abends. Ende Juli. Die Stadt feierte das Ende des Semesters. Es brüllte, johlte und bummelte. Studenten eroberten die meisten Lokale. Ich und Martin saßen in einer Bar, erinnerten uns an die unweigerlich vergangene, also die beste, Schul- und Studienzeit und schimpften über die Gegenwart.
„Ich erinnere mich, als wir dich Schnappi getauft haben. Das muss etwa in der neunten oder zehnten Klasse gewesen sein“, sagte ich kurz bevor wir mit der ersten Runde fertig waren und jeweils den zweiten Maß Weißbier bestellten. „In der neunten. Das weiß ich ganz genau. Während der Maidult. Ich ging damals mit der Eva“, sagte Martin sachlich. Ich unterbrach ihn: „Die hübsche Eva, die Schmidt. Wir haben alle dich so schrecklich beneidet. Hättest du mit der Eidechse geschlafen“ - diesen spöttischen Spitznamen gaben wir einem anderen Mädchen, die ebenfalls Eva hieß – „wäre niemand eifersüchtig gewesen. Aber du hast dir genau diese Eva Smidt angeln müssen. So `ne Unverschämtheit!“ „Ja, dann habt ihr mich Schnappi genannt und die Eva war plötzlich weg. Sie ging dann mit dir!“ „Oh, du bist mir nicht böse, nehme ich an“, lächelte ich. „Nein, Alter. Natürlich nicht. Warum eigentlich habt ihr mir gerade diesen Spitznamen gegeben? Vom Familiennamen her?“ „Nein! Weißt du es wirklich nicht? Weil du so geil und so zu sagen unersättlich warst, das du jedem Mädchen einen Antrag gemacht hast. Du wolltest jede schnappen. Am besten alle auf einmal. Daher bist du Schnappi geworden“, erklärte ich und gleich ergänzte ich: „Du weißt sehr wohl, warum die Eva Schluss mit dir gemacht hat. Oder? Sie hat gehört, und dann auch gesehen, dass du eine andere anzumachen versucht hast.“ „Das hat sie mir nie gesagt. Nur: ‚du weißt, warum‘ und ‚lass mich in Ruhe!‘ Was hätte ich denn und mit wem damals gemacht haben sollen?“ „Du hast die Claudia an den Po gefasst, als ihr auf der Sitzbank getanzt habt.“ „Ach, die Claudia, die war ja geil! Die besten Titten in der ganzen Schule hat sie gehabt!“, träumte er kurz von unserer Schulkameradin von damals. Man muss bemerken, dass in Dirndl sahen die meisten Schülerinnen gut aus, aber der Anblick von dieser Claudia war etwas Besonderes. Ihre schneeweißen Brüste von oben angespannt durch den Push-up-BH und Mieder von oben entblößt schienen aus dem Kleid entspringen zu wollen und uns, den Jungs, in die Hände zu fallen, oder sofort zwischen die Zähne. Claudia wusste zu provozieren. „Und du und Eva sind ziemlich ein Paar gewesen,“ sagte er fragend. „Ja, so ist es gewesen.“
„Wann kommt deine Mylady zurück?“, wandte er sich, der Abwechslung wegen, der Gegenwart. Seine Freundin war gerade mit ihrem kleinen Kind in Urlaub in die Alpen gefahren. Meine besuchte ihre Eltern in einem vergessenen Dorf im Nordosten Deutschlands. „Nächstes Wochenende. Wann genau steht noch nicht fest“, antwortete ich. „Meine will dort ganze zehn Tage  bleiben. Guck mal, was sie mir heute geschickt hat,“ Martin öffnete sein Handy und zeigte mir ein Foto. Blaue Himmel, Staatswappen Österreichs, ein bekanntes Gesicht einer gut aussehenden, relativ jungen Frau mit blondem Haar und zwei Schlaufenzöpfen an den Schläfen. „Siehst du? Sie wird noch zumindest fünf Mal auf diese blöde Zugspitze hochfahren und sich dort oben ein Selfie machen. Mir zum Trotz,“ meckerte er voller Aufregung und schwieg für ein paar Schluck Bier.
„Hör mal, ich muss dich danach endlich fragen“, wechselte Martin das Thema wieder zum Geschichtlichen, „die Sache mit der Eva, ist dieses Verhältnis seriös gewesen?“ „Seriös, aus meiner Sicht, wie ich die Dinge damals sah, war es schon“, antwortete ich nachdenklich. „Aber nicht sehr tief, eher oberflächlich“, ergänzte ich mit einer Portion Humor. „Was meinst du mit diesem ‚nicht sehr tief‘?“ verstand Martin meine Anspielung nicht sofort. Ich lächelte und gab ihm einen Hinweis: „Du bist kein Kind mehr, Martin. Die Gefühle von einem Mann zu einer Frau können entweder tief oder, sagen wir so, weniger tief sein. Oberflächlich.“ Und?“, er verstand noch nicht ganz, obwohl ein Zucken seiner Mundwinkel zeigte, dass er schon ahnte, was ich meinte. „Ich hatte mit ihr nur etwas Petting. Ich durfte ihre Brüste küssen, einmal ließ sie mich sie zwischen den Beinen streichen. Soviel ich weiß, hast du bei ihr auch nicht viel erreicht.“ „Nein. Diese Eva war nicht zu knacken. Aber so hübsch! So anregend!“, schwärmte Schnappi von unserer damaligen Kommilitonin. „Wir waren jung, sechzehn, siebzehn. Und wir hatten das Ziel, endlich mal eine flach zu legen“, pointierte ich und wir lachten beide donnernd. „Und wir haben gescheitert, meistens. Aber sogar ein Flop schmeckte damals besser“, war Martin völlig einverstanden, „Max, Mensch, wir brauchen wieder ein klares Ziel vor Augen!“, fast schrie er voller Aufregung, wie Archimedes, als er entdeckt hatte, des sein griechisches Glied so viel ägäisches Wasser auftreibt, wieviel er wiegt. Er hatte vollkommen Recht, der Schnap Martin. Wir mussten uns zusammenfassen und unseren jugendlichen Elan wiederfinden.
„Würdest du einen Seitensprung wagen?“, fragte ich vorsichtig. Mich hatte diese Frage schon seit Längerem geplagt. Ich hatte von diesem oder jenen Mädchen heimlich geträumt, genauso wie Martin, aber wäre ich im Stande einen von diesen Träumen jemals in die Tat umzusetzen? Daran hatte ich echt Zweifel. „Das ist eine schwierige Frage, Max“, antwortete er leise, „ich will mit Birte nicht brechen, sogar wenn sie manchmal so dümmlich mit Geld umgeht. Aber ein kleines Affärchen wäre schon wünschenswert. So ein Abstecher in eine andere Muschi“, lachte er wölfisch. Er nahm einen kleinen Schluck zu sich, schmunzelte und sagte geheimnisvoll: „Ich habe eine Idee! Siehst du die zwei Miezen?“ Er meinte zwei junge Frauen, wahrscheinlich Studentinnen, die am Nachbartisch saßen. Eine von denen hautnah an mir. „Wir machen sie an. Du fängst mit der blonden an“, gemeint war die Studentin, die mit seitlich gewandt näher saß, „dann schließe ich mich an.“ Ich weigerte, aber nach einer kurzen Überredung fand ich seine Idee doch gut.“
Ich fragte die Blonde, wie die farbigen Drinks hießen, die die Mädchen in kleinen Schlucken tranken. Als ich die Antwort doppelt wiederholt akustisch verstand, interessierte ich mich, ob die Drinks schmeckten. „Ja, warum?“, sagte sie lächelnd, freundlich und gleichzeitig höhnisch. „Na, einfach so. Also, das ist der berühmte Bacardi-Cocktail, sagst du.“ „Ja, mit Limette. Und was trinkt ihr, Jungs?“, stellte sie eine Widerfrage, was als ein gutes Zeichen zu deuten galt. „Weizen. Willst du einen Schluck?“ „Nein, danke“, lachte sie, „Willst du meine Limette? Die wird zum Bier ganz gut passen.“ Ihre Freundin entfernte sich inzwischen, wahrscheinlich musste sie auf Toilette. So bekam ich zum Flirten freie Hand. Ich wollte die Limette. Ich mag bitter und sauer. „Eine so gute Limette habe ich noch nie gehabt“, versuchte ich mit einer schelmenhaft-süßen Stimme zu verführen. „Das freut mich. Wie heißt du und dein Freund?“, fragte sie, was ein extrem gutes Zeichen war. Sie hieß Magda und kam aus irgendwo in Osteuropa. Markwürdig, dass ich ihre ausländische Herkunft nicht an ihrem Akzent erkennt hatte. Vielleicht war ich auf dem tiefen Halsausschnitt ihres Kleids zu sehr fokussiert. Oder auf ihren intensiv roten Lippen, an die ich mich nach so vielen Jahren so gut erinnern kann, als ob wir immer noch in der Bar säßen. Ich spürte, dass meine Hosen etwas enger werden, legte meine Hand auf ihr Knie und fragte, ob wir, ich und Martin, uns an ihren Tisch umsetzen dürften. „Ihr seid betrunken“, zischte sie spöttisch lächelnd. „Nicht heute, Jungs“, fügte ihre in der Zwischenzeit zurückgekommene Freundin, hinzu. „Ihr sollt uns in Ruhe lassen“, sagte sie noch deutlich artikulierend jedes Wort, damit es kein Zweifel gäbe.
Martin und ich sind leer ausgegangen. Wir konnten nur „Pech“ sagen, noch ein Maß bestellen und uns weiter alleine unterhalten. „Ein Versuch ist kein Versuch“, trösteten wir uns einander. Wir verließen das Lokal, ohne das Bier ausgetrunken zu haben. „Wir brauchen nüchterne Köpfe“, waren wir uns einig. Wir verabschiedeten uns wünschten uns einander, dass uns über Nacht etwas Kluges einfällt.
„Ich habe eine Idee!“, hörte ich Martin auf dem anderen Ende der Funk-Leitung in sein Handy aufbrüllen, als ich ihn am Morgen anrief. Er wollte, ich unverzüglich zu ihm komme, was ich auch gleich tat. Er hatte eine brillante Idee. Wir sollten uns auf eine Bank in der Altstadt hinsetzen und fremden Passanten aus der Hand die Zukunft lesen. Auf diese Weise sollten wir ein oder besser zwei Mädchen kennenlernen und sie in nächsten Schritten ins Bett hinein tricksen. „Eine dumme Hübsche wird es schon in diesem Kaff geben!“, meinte Martin und ich weder konnte noch wollte ein Gegenargument bringen. Laut der Gaußschen Verteilung sind die meisten nicht besonders klug, jedoch auch nicht ausgesprochen hübsch. Aber für unsere Zwecke würde genügen, dass das dumme Mädchen nur das notwendige zwischen den Beinen habe. Das eventuelle Defizit an Schönheit kann immer die Vorstellungskraft decken. Im Dachgeschoss suchten wir uns passende Klamotten, die aus dem Zeitalter stammten, als Martins Vater noch Schüler war, wir zogen uns um und fuhren wir in die Stadt. In dieser Verkleidung sahen wir aus wie ein Übergangstadium zwischen US-amerikanischen Amischen und einem Faschingsnarr.
Ich, mit schwarzen Brillen auf der Nase, spielte den blinden Weissager. Martin, im übergroßen schwarzen Hut und mit seiner linken Hand unter dem Sakko, sollte mein behinderter Begleiter sein. Neben unseren nicht alltäglichen Outfits zu unserer Ausstattung gehörten zusätzlich ein Pappkarton beschrieben mit Worten wie Zukunft, Weisheit und Chiromant in Buchstaben der Größe XXL, eine Damen-Portemonnaie ebenfalls der Größe für Übergewichtige und ein uraltes reich illustriertes schwarz-weiße Handbuch der Chiromantie auf Latein in großdeutscher Frakturschrift. Besonders das letzte antiquiertere Utensil hat uns Glaubhaftigkeit beschaffen sollen. Wir nahmen Platz auf einer Bank in einer breiten Gasse mitten in der Altstadt.
Erst nach drei Stunden, während welcher wir uns der Reihe nach mit einer älteren Dame, die beteuerte Keizer Wilhelm mit eigenen Augen gesehen zu haben, mit einem gelangweilten Priester, der nach der Morgenmesse nach Hause schlurfte und mit einem echten Narren, der sein exklusives Wissen über Zeitreisen unbedingt mit uns teilen wollte, unterhielten, kam ein Mädchen an uns zu. Eine Elfjährige, der es gleichgültig war, wie lange sie leben und ob sie reich werde, die von nur einer Frage geplagt war, und zwar ob sie ein gewisser Khalim aus der sechsten Klasse gern hat. Ihre Eltern schauten von einer sicheren Entfernung von zehn Metern auf uns zu.
Nachdem ich dem Kind die wahrste Wahrheit offenbart hatte, dass erstens der Khalim alle Mädchen mag, aber erst in der neunten Klasse zum ersten Mal eine Freundin küsst und zweitens dass die Elfjährige sich zu dieser Zeit noch dreimal verlieben wird, gesellte sich mit uns eine Clique von vier Teenage-Mädels. Die waren lustig. Bemerkenswert, sie waren die einzigen Gesprächspartner von uns, die erkannten, dass wir keine echten Magier waren. Erstaunlich aber auch durchaus nachvollziehbar, wenn man sich die statistische Verteilung der Denkkompetenzen in der Gesellschaft nach Gauß vor Augen führt, wonach die meisten Leute lauter Idioten sind. Die Mädchen dagegen gehörten zu den glücklichen zehn oder fünfzehn Prozent, die keine Benutzungsanweisung für ihre Hirnwindungen brauchen.
Sie standen rund um die Bank, auf der wir zwei saßen und unser übernatürliches Geschäft führten, und heftig schnatterten. Sie machten sich lustig über uns und über sich einander. „Sagen Sie, ob sie glücklich in der Liebe sein wird!“, „wie viele Male sie heiratet“, „heiratet? Bist du verrückt? Mit ihr wird niemand aushalten. Haha!“, schrien eine nach der anderen, während ich angeblich blind eine Hand von ihrer Kumpanin nach Handlinien und Fingerlängen mühsam tastete. „Ich bin am Lesen der linken Hand. Die sagt uns über das Jetzt und die Vergangenheit“, dozierte ich aus dem Bauch sprechend mit einer geheimnisvoller Stimme und mit Mühe mich aufhaltend vor Lachen. Zarte Hände hatte das Mädchen. Mir war angenehm, sie zu berühren. Unweigerlich stellte ich mir vor, dass ich ihre Haut auch an anderen Stellen ihres Körpers abtastete. „Liebe ist sehr wichtig uns spielt große Rolle in deinem Leben. Du bist von Natur auf Gefühle eingestellt. Tiefe Gefühle. Oft nehmen Sie dich ganz in Anspruch und verschleiern dir die Wahrnehmung der Wirklichkeit“, wahrsagte ich langsam, damit kein Wort verloren gehe. „Die Julia hat sich verliebt! Haha!“, unterbrach mich eine freche zwitschernde Stimme von hinten. „Mag sein, gnädiges Fräulein. Mag sein, es handelt sich um etwas Wichtigeres als nur um verliebt sein“, sprach ich unbeirrt fort. „Liebe ist wichtig, aber jetzt musst du auf andere Sachen Acht haben. Deine Gesundheit. Du sollst aufpassen. Du stehst vor einer wichtigen Entscheidung. Das sagt die Lebenslinie, die sich zu verzweigen scheint. Ich sehe eine Sackgasse. Eine Falle. Du musst rechtzeitig abbiegen, um in sie nicht zu geraten.“ Ich spürte Zittern. Die Hand des Mädchens vibrierte unwillkürlich. Wahrscheinlich traf meine undeutliche Aussage einen wichtigen Nerv von ihr. „Ich darf jetzt nicht alles laut vorlesen, was deine Hand mir offenbart“, versuchte ich die junge Unbekannte zu einem Tête-à-tête zu bewegen. „Dein Saturnfinger, so lang und formig, zeigt, dass du starken Charakter hast, du bist zuverlässig“, sprach ich noch eine kurze Weile und versuchte das Mädchen zu loben, besser gesagt zu schmeicheln. Gleichzeitig konnte ich die Versuchung nicht überstehen, mir vorzustellen, wie sie diesen Mittelfinger bei Selbstbefriedigung einsetzte. „Du trägst einen Ring auf dem Saturnfinger. Einen schönen Ring. Mir scheint, dir fehlt das Gefühl der Sicherheit. Du machst gerade eine schwere Zeit durch.“ – um die Bank wurde still wie ein Grab – „Deine Nächsten sind ganz im Dunkeln. Du kannst nur auf dich selbst rechnen. Vergesse es nicht! Du hast sehr schöne Finger.“ Tja, das ganze Mädchen, nicht nur ihre zarte Hand, war nicht hässlich. Leider für mich viel zu jung.
Als ich so vor mich hin quatschte, erinnerte sich Martin, wie ich dieses Chiromanten-Spiel auf Schulausflügen getrieben hatte. Damals als wir auf der neunten bis elften Klasse waren. Ich konnte abends stundenlang plaudern und die Mädels einseifen. Auf diese Weise bin ich seiner Ex, der hübschen Eva, näher gekommen. Martin beneidete mich damals tierisch um diese Fähigkeit mit lauter Floskeln lang zu reden ohne etwas Konkretes zu sagen. Wir waren Konkurrenten gewesen. Jetzt spielten wir in derselben Zweier-Mannschaft.
Ein nächstes Mädchen war dran. Und noch eins. Bis alle vier ihre Weissagungen gehört und sich dabei satt amüsiert haben. Und wir der Anständigkeit und dem Jugendschutz wegen kein einziges Küsschen als Belohnung verlangen könnten. Im Gegensatz zu damals. Keines von den Teenage-Mädchen würde auch einen sonderlichen Kauz küssen wollen. Es sei denn wir wären zehn Jahre jünger gewesen. Oh, dann hätten wir keins von diesen vier süßen Zünglein in Ruhe gelassen.
Nach diesen Teenagerinnen las ich noch aus ungefähr zehn Händen. Alle gehörten Frauen, die trotz offensichtlich gelähmten Synapsen für unser Ziel nicht taugten. Wir stehen ja nicht auf teer-dunstende Raucher-Drachen und wir sind keine Nekrophiler. „Martin, leider bin ich gezwungen, die Operation Chiromant hiermit als gescheitert zu erklären“, beendete ich förmlich das Open-Air-Improtheater. „Na ja, gutes Fickchen braucht gute Ideen!“ Martin Schnap gibt nach dem ersten Versuch nie auf. Wenn es um Mädchen geht war er schon zur Schulzeit beharrlich. Oder sogar stur. So habe ich ihn in Erinnerung behalten.
Noch am selben Abend gingen wir in eine Disco. „Wann warst du in einer Tanzbude das letzte Mal?“, fragte ich Martin vor dem Eingang in die Lärmhölle. „Abgesehen von den Neujahrsbällen an der Uni eigentlich nie“, antwortete er überrascht, weil er sich bisher den Kopf mit solchen Fragen nicht gebrochen hatte. „Nie?“, wiederholte ich. Ich war stolze zwei Mal. Am längsten habe ich dreißig Minuten ausgeharrt. „Ist es wirklich ´ne gute Idee?“, äußerte ich meine Zweifel. „Na klar! Bloß nicht unnötig lange bleiben! Aufmerksamkeit erregen, ein Weibchen fischen und mit der Beute im Netz den Teich verlassen“, hieß der schlaue Plan.
An der Theke bestellten wir ganz bescheiden je eine Flasche Weizen und der Ärger ging los. „Was ist mit dem Geld nicht in Ordnung?“, zeigte sich Martin erstaunt. „Wie meinst du das? ‚Wir nehmen dieses Geld nicht‘ – Welches Geld nimmt euch denn, wenn ihr dieses nicht wollt?“, Martins Ärger wuchs vom Satz zum Satz. Der Barmann wusste nicht mehr, was er sollte. Er guckte auf Martin wie auf einen debilen Clown, der sich einen blöden Witz erlaubte und dabei stur konsequent handelte. „Sag doch, was los ist!“, ärgerte sich Martin gespielt wie echt, überzeugend täuschte er Wut vor: „Das ist ja ein ganz normaler Zwanziger, oder sehe ich falsch!“ „Ja, aber was für ein Zwanziger?“, heulte der Bierschenker verzweifelt. „Wie, was für einer? Ganz normale zwanzig Mark! D-Mark!“. Das D artikulierte Martin mit besonderer Mühe um Genauigkeit. „Na eben!“, ließ der junge Mann an der Theke seine Arme hängen und schaute sich Hilfe suchend um.
Von der Seite, fast von Anfang an, beobachtete eine Studentin dieses Debakel mit wachsendem Interesse. Eigentlich kamen wir an die Bar nur wegen ihr, da sie im kargen Licht nicht schrecklich aussah, zumindest von der Seite und von hinten, und schien alleine zu sein. Wenn sie ihre Blicke auf Martin wandte, beobachtete ihn ein schönes Frauengesicht in Umrundung aus lockigem Haar. Ich stellte mir sie vor als Revers einer Zwei-Euro-Münze. Sich von ihr zu trennen, um etwa einen Leiben Brot zu kaufen, wäre nicht so leicht wie es mit den normalen Adler-Münzen der Fall ist. Sie lächelte freundlich, wenn meine und ihre Blicke sich einander trafen. Das erste Zwischenziel haben wir also erreicht. Wir hätten zum Schritt zwei übergehen sollen, das heißt einen Gespräch starten. Über ungewollte Zeitreisen und wie schwierig es manchmal ist, sich in der der Zukunft zurechtzufinden.
Aber es geschah anders als geplant, wobei die lockig haarige Schönheit sich weiter amüsieren konnte. Zwei Männer wandten sich auf uns zu. Erstens ein anderer Barkeeper, ein in seinem Handwerk viele bewanderter Fachmann als der erste. Er drohte schlichtweg, die Polizei anzurufen, sollten wir sofort mit dem D-Mark-Theater nicht aufhören. Der andere Mann kam von nirgendwo her. Er materialisierte sich an der Theke und bot einen Zwanzigeuroschein für das antiquiertere Zahlungsmittel. Er wollte eins zu eins umtauschen. Kein schlechter Kurs eigentlich. Aus den Augenwinkeln merkte ich, dass auch ein Türsteher auf uns aufmerksam wurde. Wenn wir am eigenen Leibe seine Umwandlung in einen Rausschmeißer nicht erfahren wollten, mussten wir den Skandal beenden und das Lokal verlassen. Lieber nicht auffallend auf eigenen Füßen, als ausgetragen zu werden. „Dumm gelaufen“, murmelte Martin auf dem Heimweg. In seinem Kopf rumorte es aber vor neuen Ideen.
Am Sonntag bummelten wir wieder durch die Altstadt. Vom Morgen bis zum grauen Abend. Operation Touristen und Operation Ausländer hieß abwechselnd dieses Abenteuer. Wir schlenderten die Fußgängergassen entlang, machten Halt an Brunnen auf den Marktplätzen, wir geisterten herum auf den Omnibus- und Bahnhöfen. Und wir sprachen junge Frauen an. Mal waren wir verlorene Touristen, Deutsche oder Ausländer und fragten harmlos nach den Weg oder Uhrzeit. Mal grüßten wir mit breit offenen Armen vermeintliche Bekannte. Wir hörten zu, welche Sprache die anderen Passanten sprechen und griffen Ausländerinnen an: „Hallo, weißt ihr zufällig, wo man hier gut essen kann? Wie kauft man Tickets an diesen gelben Automaten? Seid ihr Studentinnen?“, und so weiter, und so fort. Alles auf Englisch oder Französisch. Ergebnis: viel Lächeln, Small-Talk, ein paar kokette Blicke und nichts mehr. Zwei Mal wurden wir zu angeblich unserem Hotel begleitet, von Deutschen Mädeln, die uns gefälligst den Weg zeigen wollten, aber ebenfalls keine Aussicht auf ein Rendezvous. „Nichts ist einfach im Leben“, konstatierten wir am späten Abend. „Bloß nicht aufgeben.“
Der Misserfolg wirkte jedoch deprimierend. Gute Ideen gingen aus. Während der Woche machten wir nichts Außergewöhnliches mehr. Tagsüber die Arbeit, nachmittags entweder alleine Bücherlesen und im Internet Surfen oder ein Bierchen mit dem Freund. Dasselbe am nächsten Wochenende, dem letzten ohne unsere Freundinnen.
Erst am Sonntag passierte etwas, was keinem von uns in den Kopf gekommen wäre. „Max, Alter, bereite dich vor“, schrie Martin in sein Handy, „jemand ruft dich an, eine Sandra. Sie will sich mit dem blinden Handleser treffen.“ Tatsächlich, keine volle Minute war vergangen, als mein Telefon wieder klingelte. Eine Mädchenstimme wollte wissen, ob ich sie beraten könnte, und wenn ja, wo, wann und wieviel es kosten mag. Ich war einverstanden, ich zögerte nur ein bisschen, um meiner Tätigkeit als Magier Glaubwürdigkeit zu schenken. Für die Detailplanung des Treffens verwies ich die junge Kundin an meinem Assistenten zurück. Leider musste ich das Gespräch mit der netten Stimme schnell beenden – ich war am Bahnhof, gerade dabei meine Freundin vom Fernzug abzuholen. Gut das Mädchen nicht einige Minuten später angerufen hat. Es hätte Ärger gegeben.
Wir trafen uns zu dritt in Sandras Wohnung, bei Abwesenheit ihrer Eltern. Da sie noch auf Gymnasium ging und keine achtzehn war, verlangte wir kein Geld von ihr. Ich wahrsagte ehrenamtlich. „Diese Fähigkeit wurde mir umsonst geschenkt. Es gehört sich sie wieder zu geben“, erklärte ich äußerst bescheiden. Ich tastete ihre Hand, mit Fingerspitzen fühlte ich die Hügel und Linien. Ich sprach. Nach einer Weile verwies ich meinen Assistenten aus dem Zimmer. Das, was ich zu sagen hatte, war nämlich bestimmt nur für Ohren des Mädchens. Sie musste mir auch etwas anvertrauen, damit ich weiter ihre Hand lese. Ich streichelte ihren Stirn und Backen. „Du bist sehr hübsch, Sandra.“ Ich, der maulwurfblinde Wahrsager, musternd tätschelte ihre Lippen. „Wirklich sehr schön“, schmunzelte ich unbeirrt.
Am fünften Treffen berührte ich nicht nur das Gesicht und Lippen. Meine Fingerspitzen gelangten dort, wo vor mir keine männlichen Finger gewesen waren. Eine Idee von Martin Schnap ist doch eingesprungen. Nur er selbst hat nichts davon. So ist das Leben von vielen Inventoren.

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